Martin Kröger: In den vergangenen Jahren haben sich ausgehend vom Gedenkjahr 2014 zahlreiche Autoren und historische Ausstellungen mit dem Ersten Weltkrieg beschäftigt. In einer Berliner Ausstellung haben sich im Herbst 2016? Künstler und Künstlerinnen mit dem Weltkrieg jenseits der bekannten Schauplätze befasst. Judith Raum lebt und arbeitet in Berlin. Für Ihre Installation „Geeignete Lektüre“ recherchierte sie im Politischen Archiv des Auswärtigen Amts. internAA sprach mit ihr über ihre Erfahrungen im Archiv, ihre künstlerische Arbeit und Ideen zu einer Geschichtskultur.
Frau Raum, Sie haben sich in der Ausstellung digging deep, crossing far einem weitgehend unbekannten Erinnerungsort angenommen. Worum ging es dabei?
Judith Raum: Die von Elke Falat und Julia Tieke konzipierte Ausstellung nahm sich das sogenannte Halbmondlager bei Zossen-Wünsdorf als thematischen Knotenpunkt, um Verflechtung von Politik, Kolonialismus, Wissenschaft und Medien während des Ersten Weltkriegs aufzuzeigen. In dem Lager waren mehr als 16.000 koloniale Soldaten der französischen, britischen und russischen Armee, in der Mehrzahl Muslime, interniert.
Bis 1918 war es zentrales Ziel des Deutschen Reichs, sich als Freund und potentiellen Unterstützer aller Muslime darzustellen. Mit Hilfe einer „Dschihad-Strategie“ sollten Aufstände unter der muslimischen Bevölkerung der von Frankreich, England und Russland kontrollierten Gebiete entfacht werden. Die Kriegsgefangenen wurden mit eigens für sie entwickelten und übersetzten Lagerzeitungen versorgt, um sie ideell zu binden und schließlich zum Überlaufen auf die deutsche Seite zu bewegen. Als Teil ihrer sogenannten „Sonderbehandlung“ hatten sie die Möglichkeit, ihre Religion in einem Gebäude für die rituellen Waschungen und einer Moschee frei auszuüben. Es war der erste Moscheebau in unserem Land, allerdings ein billig konzipierter Bretterbau.
Die Erfahrungen und Biographien der Inder, Nordafrikaner oder Tartaren, die als alliierte Truppen an die europäischen Fronten transportiert wurden, sind von der Geschichtsschreibung vernachlässigt worden. Die Forschung dazu wird auch in den Heimatländern der Soldaten erst in jüngster Zeit vermehrt betrieben. Berlin war daher auch nicht die erste Station der Ausstellung digging deep, crossing far: Weitere „Encounters“ mit Beiträgen lokaler und internationaler Künstlerinnen und Künstler hatte es bereits in Karachi und in Bangalore/Kochi gegeben, eine jetzt im Februar 2017 folgende Station ist Lahore in Pakistan.
Wie sind Sie auf Ihr Thema gekommen?
Da ich schon für frühere Arbeiten intensiv in Archiven geforscht hatte, wurde ich eingeladen, einen Beitrag zur sogenannten Nachrichtenstelle für den Orient (N.O.) in Berlin zu entwickeln. Die Nachrichtenstelle – dieser Aspekt deutscher Orientpolitik scheint mir bisher wenig wahrgenommen – entwickelte während des Ersten Weltkriegs unter Führung von Max von Oppenheim und abgesegnet durch den Generalstab die Propagandastrategie für den Nahen Ostens, Indien und Nordafrika. Deutsche Spezialisten für orientalische Sprachen, aber auch „Eingeborene“ (so der Wortlaut der Akten) verfassten Zeitungsartikel für die in- und ausländische Presse, in denen sie positiv über muslimische Länder und Sitten berichteten. Vor allem wurden Flugblätter und Broschüren zu Tausenden gedruckt, die sich an die muslimischen Soldaten an den Fronten, sowie an die muslimische Bevölkerung der von den alliierten Mächten kontrollierten Gebiete richteten. Darin wurde offen zum Dschihad gegen die fremden Herren aufgerufen. Max von Oppenheim ging 1915 nach Konstantinopel, um von dort aus über das gesamte Osmanische Reich verteilt und darüber hinaus sogenannte Nachrichtensäle einzurichten: 75 solcher Säle sind dokumentiert. Hier lagen die Propagandaschriften wie auch deutschlandfreundliches Informationsmaterial bereit, das dezidiert auch auf eine zukünftige Förderung der wirtschaftlichen Beziehungen mit der Region abzielte.
Die Akten zur „Tätigkeit der Nachrichtenstelle für den Orient“ im Politischen Archiv des AA umfassen neben Dokumenten zur Organisation auch zahlreiche Flugblätter und Broschüren aus der Produktion der Nachrichtenstelle. Weitere Flugblätter fand ich in der Landesbibliothek Stuttgart. Ich fotografierte systematisch alle noch vorhandenen Drucksachen und transkribierte Briefwechsel und Protokolle,. Mit dem gesammelten Material arbeitete ich dann im Atelier und entwickelte die Installation „Geeignete Lektüre“.
Für Ihre künstlerische Arbeit nehmen sie die historischen Dokumente aus ihrem bürokratischen Umfeld, den Vorgängen und Akten. Eine Historikerin würde das nun zu einem neuen Kontext komponieren, einem Vortrag oder einem Buch. Sie aber schaffen etwas ganz Neues daraus. Woher beziehen Sie die Impulse für Ihre Arbeit?
Im Umgang mit historischem Material treibt mich die Frage um, wie verschiedene Weisen des „Zugreifens“ auf die Welt aussehen und sich abdrücken, die ihrer Qualität nach verschieden sind, je nachdem ob sie abhängig oder unabhängig von ökonomischen und kolonialisierenden Interessen sind. Und diese Frage kommt aus Erfahrungen, die ich bei der Arbeit mit Malerei und Plastik mache bzw. gemacht habe: feine graduelle Unterschiede darin, wie man etwas macht, noch macht oder wieder macht. Wie gehst du mit dem Ding um, an dem du arbeitest, und gleichzeitig mit dir selbst. Wie schreiben sich unterschiedliche Haltungen in Dinge ein, und welche Haltungen erzeugen die Dinge?
Solche Fragestellungen stehen am Anfang, wenn ich bei meinen Reisen durch Archive nach spezifischen Momenten innerhalb bestimmter Ordnungen suche, Ordnungen, die historischer und zeitgenössischer, geographischer und wirtschaftlicher, ästhetischer und sozialer Natur sind und wo unterschiedliche Formen des Berührens und – fast noch wichtiger und schwerer zu fassen – des Berührtwerdens manifest werden. Darauf reagiere ich wiederum, indem ich Phänomene und Prinzipien aus dem Gefundenen extrahiere, die ich in Zeichnungen und Malereien mit ihren ganz eigenen formalen, strukturellen und gestischen Mitteln bearbeite.
Im Fall der Installation „Geeignete Lektüre“ waren es zwei Momente, die mich besonders interessierten. Erstens, die frappierende „Verkleidungsleistung“, mit der deutsche Sprachgelehrte in die Denkweise anderer Kulturen zu schlüpfen versuchten, um religiös-ideologische Texte zu verfassen. Versuche, die im Nachhinein wie eine Art Delirium erscheinen, wie Sinn-Blasen. Und zweitens ein im Materiellen verhaftetes Phänomen, dass nämlich das Papier der Flugblätter, die voller kompromissloser, teils blutrünstiger Rhetorik sind, so zart, durchscheinend und brüchig daherkommt.
Dokumente, wie ich sie aus dem Archiv kenne, haben Sie einerseits zu einer tapetenartigen Collage zusammengefügt, andererseits lassen Sie die historischen Texte unkommentiert von Schauspielerinnen lesen. Wenn man täglich mit solchen Texten zu tun hat, entwickeln sie so verfremdet eine ganz seltsame, absurde Wirkung. Welche Vorstellungen Historiker bei der Archivarbeit leiten, weiß ich recht gut, welche Ideen leiten eine Künstlerin bei der Archivarbeit?
Den Akten nähere ich mich als Performancekünstlerin mit einer bestimmten Vorgeschichte. Ich habe mich in den letzten Jahren kritisch mit dem Bau der Bagdadbahn beschäftigt. Die Korrespondenzen dieses wirtschaftskolonialistischen Projekts bestimmte ein geschäftsmäßiger und akribischer Ton. Ich habe mehrere dieser Texte für Installationen von Schauspielern einsprechen lassen oder selbst in Performances verwendet. Deshalb lag auch diesmal mein Augenmerk auf der Sprache. Und ich nähere mich als Malerin, was meinen Blick auf die materielle Verfasstheit der Akten lenkt, Ausdruck und Sinnhaftigkeit, die auf dieser Ebene entstehen.
Die spezifische Logistik, die das Projekt des Verfassens und Übersetzens von hunderten religiös-ideologischer Schriften und deren anschließender Versand erst möglich machten, interessierte mich an den Akten zur N.O. besonders. Ich wählte also Akteneinträge aus, die in meiner Wahrnehmung exemplarisch stehen für die Zeit und Geisteshaltung: Texte, aus denen Kontrolle und Ordnung, rassistische Vorurteile oder naive Kulturmission sprechen. Solche Texte haben für mich die Qualität von Theatertexten und können einfach für sich stehen. Etwa eine Versandliste eines propagandistischen Kriegsberichts, in der dann über Seiten hinweg in stenographischer Kürze Orte, die uns aus aktuellstem Anlass traurig im Ohr klingen – Aleppo, Damaskus, Mossul, Bagdad – auftauchen, dazu die Namen lose verstreuter deutscher Vertrauensleute und Zahlen, mit wieviel Tausend Schriftstücken man versorgen will.
Diese logistischen Texte wurden von der Schauspielerin Mira Partecke eingesprochen und liefen in der Installation als ständiger Loop. Ihre Stimme klingt gleichzeitig verletzlich und klar. Die Organisations- und Kontrollversuche, die aus den Briefen sprechen, bekommen durch die ständige Wiederholung etwas Manisches. Aus in Kopfhöhe hängenden Lautsprechern geflüstert, begleiteten diese Texte die Besucherinnen und Besucher unnachgiebig durch die Installation. Ich habe außerdem einige Wortlaute von Flugblättern einsprechen lassen, diesen Part hat Susanne Sachsse übernommen. Bedrückende und beängstigende Texte! Sie sind, oberflächlich gehört, nah an der Propaganda des IS. Diesen Texten wollte ich keinen freien Raum geben – sie waren über Kopfhörer zugänglich.
Was dann andererseits zentral für mich wurde bei der Arbeit im Politischen Archiv war die physische Verfasstheit der Flugblätter und Pamphlete. Sie sind auf fragilem, leicht durchscheinendem dünnem Papier gedruckt, manches davon zart rosa, anderes in hellem Türkis. Einzelne Partien sind verblichen, eingerissen, geknickt. Die fremden Schriften sind von Arabesken und Zierleisten gerahmt. Man hat es bei diesen Propagandamedien also mit visuell sehr Feinem, Brüchigem und Zartem zu tun, das äußerst kriegerische Botschaften trägt. Diesen materiell-stofflichen Eindruck wollte ich aufgreifen. So entstanden die überkörpergroßen Arbeiten auf Japanpapier, auf dünnes, glänzendes Weißblech aufgezogen und vertikal in den Raum gehängt. Die Malerei zieht Schlieren, als wäre die Druckerpresse in die Irre gelaufen. In großen, blassfarbigen Blasen breitet sich so, neben den Texten, die aus den Lautsprechern zu hören sind, die deutsche Orientpolitik der Kaiserzeit im Raum aus. In Falten, mit Rissen, von Rost durchfressen.
Die Tapete aus Dokumenten der N.O. sollte, das war mir wichtig, die Fülle des Materials, das damals produziert wurde, deutlich machen. Körperhoch ist die Wand angefüllt mit Flugschriften und Prospekten, Dokument über Dokument, in leuchtenden Farben. Man verliert sich in dieser Produktion.
Bei Führungen im Politischen Archiv mache ich die Erfahrung, dass viele Menschen eine kaum überwindbare Scheu, fast Ehrfurcht, vor den alten Dokumenten haben. Welche Besucherreaktionen haben Sie auf Ihre Installation erfahren?
Dass die Umgebung eines Archivs so eine Reaktion hervorruft, kann ich mir vorstellen. Museen können eine ähnliche Wirkung haben. Ich habe ein Problem damit, wenn Kunst, Geschichte, Inhalte so präsentiert werden, dass man das Menschengemachte dahinter nicht mehr sieht. Mir geht es darum, zu zeigen – auch über eine rein sinnliche Ebene, die sich den Augen und dem Tastsinn vermittelt – , dass Geschichte anfassbar und bearbeitbar ist. Mich haben immer Philosophien der Selbstermächtigung, der grundlegenden Kreativität am meisten begeistert: Michel de Certeau, Toni Negri.
Aber Sie fragen nach den Reaktionen auf meine Installationen. Soweit ich das sehen kann, gelingt punktuell das, was mir ein Anliegen ist: die Besucher und Besucherinnen zu engagieren und die Konstruktion von Sinn zu einer gemeinsamen Sache zu machen. Die Historiker sind jedenfalls meistens sehr begeistert.
Unser Thema ist Geschichtskultur. Sollte eine Behörde wie das Auswärtige Amt eine interne Geschichtskultur haben, die über altbackene Traditionspflege hinausreicht? Und wie könnte so etwas aussehen?
Da könnte ich mir durchaus etwas vorstellen: es ginge um Selbstbetrachtung und unausweichlich um Selbstkritik. Das ist nicht immer einfach, schafft Angriffsflächen. Autoritätsverlust ist eine Sorge, vermute ich. Aber könnte das AA nicht Vermittlungsformen der eigenen Geschichte entwickeln, offene Unterrichts- oder Workshopformate, eine partizipative Oper, ein Puppentheater, oder Inszenierungen von Gesprächen am Stammtisch, in der Amtsstube oder am Staatsbankett, um in Dialog zu kommen über zentrale Momente deutscher Geschichte und über die Entscheidungen, die jeweils getroffen wurden? Formate, die einen neuen Umgang mit Geschichte vorschlagen und eine eher experimentelle Wissensstrategie verfolgen würden, als auf Bedeutungstotalität abzuzielen. Es würde mich interessieren, dabei auch Seiten- und Nebenwege der jüngeren Geschichte beleuchtet zu sehen. Alles ganz im Sinne Michel Foucaults und seiner Archäologie des Wissens: heterogene, disparate und diskontinuierliche Narrationen, „Geschichten mit leichtem Gefälle“. Sie haben in Ihrem Archiv so viel Stoff!