Ein Gespräch über die Politizität von Archiven, Autor:innenschaften und Aushandlungsprozessen in Raums künstlerischer Forschung zur Bauhaus Textilwerkstatt der 1930er Jahre.
Judith Raum im Gespräch mit Ines Schaber
eingeladen von after the butcher, Berlin, Dezember 2019 1
Ines: Ich würde gerne mit einer einfachen Frage an Dich anfangen, Judith: Vor der Arbeit, über die wir heute sprechen, hast Du lange zur Bagdadbahn gearbeitet. In Deiner Arbeit eser ging es dabei auch um Kolonialgeschichte. Wie bist Du von dort zum Bauhaus und zur Moderne gekommen?
Judith: Das war eher Zufall, die Installation Bauhausraum (Abb. 1), mit der meine Auseinandersetzung mit der Textilwerkstatt am Bauhaus begann, war eine Auftragsarbeit. Susanne Weiß und Inka Gressel kuratierten die ifa-Tourneeausstellung Das Ereignis eines Fadens 2 und hatten mich dazu mit einer älteren Arbeit eingeladen. Neben dem Bagdadbahnkomplex, den Du erwähnst, hatte ich ja auch zu Produktionsbedingungen von Hausweber*innen in Süddeutschland gearbeitet. Malereien und ein Video dazu sind Teil dieser Ausstellung.
Dann schlug Elke aus dem Moore, die damalige Leiterin des ifa, vor, auch etwas zur Weberei am Bauhaus zu machen. Das war 2016, das 100-jährige Bauhausjubiläum 2019 war in Sicht. Die Kuratorinnen haben mich dafür angefragt, weil sie meine Art, mit Archiven zu arbeiten, aus früherem Zusammenarbeiten kannten. Wir haben uns durchaus gefragt, ob man etwas zur Textilwerkstatt am Bauhaus machen soll. Alles schien intensiv beforscht. Aber Susanne Weiß hat darauf bestanden. Sie meinte, vielleicht findet sich doch das eine oder andere Detail, das bisher im Verborgenen geblieben ist. So war es dann ja auch.
2016 habe ich mit dem Recherchieren begonnen und daraus die Installation Bauhausraum 3 und die dazugehörige Publikation entwickelt. Das Material, das ich in den Archiven gefunden habe, hat mich beeindruckt. Ich musste einfach weiterarbeiten. So kamen weitere Einladungen.
Ines: Danach gab es andere Ausstellungen, in denen das Material, das du erarbeitet hast, wieder auftauchte—Ausstellungen, die nicht nur einen künstlerischen Kontext hatten, ist das richtig?
Judith: Genau. Eine größere Folgeeinladung kam 2019 vom Grassimuseum in Leipzig, das dortige Museum für Angewandte Kunst. Dort hatten sie für das Bauhaus-Jahr den Schwerpunkt Sachsen. Die Textilwerkstatt des Bauhauses hat in den 1930er Jahren mit sächsischen Firmen kooperiert. Ich sollte zu diesen Kooperationen recherchieren und möglichst etwas Neues finden. Das war die Bedingung für die Teilnahme an der Ausstellung. Die zwei Firmenkooperationen der Textilwerkstatt in Sachsen werden in den überlieferten schriftlichen Dokumenten sehr unvollständig erwähnt. Eigentlich lagen sie im Dunkeln.
Ines: Kannst Du mehr dazu sagen?
Judith: Das Bauhaus wurde im April 1933 geschlossen. Seit Januar 1932 war Lilly Reich die Leiterin der Textilwerkstatt, nachdem Gunta Stölzl 1931 gegangen war. 4
Unter Gunta Stölzl war ein erstes Mal eine Firmenkooperation eingegangen worden, um Gebrauchsstoffe unter dem Namen Bauhaus im großen Stil herauszubringen. Unter Lilly Reich wurde ein zweiter Anlauf unternommen. Beide Industriekooperationen waren bisher nur ansatzweise erforscht. 5
1930, unter Gunta Stölzl, erfolgte die Zusammenarbeit mit der Firma Polytex 6. Aus dieser Kooperation waren immerhin noch einige Stoffe bekannt, aber keine Details zur Firma, auch der Produktionsstandort nicht. Und das vielleicht wichtigste Zeugnis dieser Zusammenarbeit, eine Werbekarte, auf der Fotos von zwei Stoffen zu sehen sind, war zwar mehrfach abgebildet worden, die Stoffe darauf aber nie identifiziert worden. Im Staatsarchiv Dresden fand ich bisher unbekannten Akten zu der Firma, die insofern interessant sind, als sie zeigen, wie Polytex sich erfolglos im Möbelstoffgeschäft zu etablieren versuchte und schließlich Insolvenz anmelden musste, weil man sich mit zu aufwändigen, teuren Stoffen verkalkuliert hatte. Die „Bauhausstoffe“, Möbel- und Vorhangstoffe, machten nur einen kleinen Teil des Sortiments aus. Und im TextielMuseum Tilburg gab es bei der Durchsicht des Nachlasses von Lisbeth Oestreicher 7, die das Bauhaus 1930 verlassen hatte, eine große Überraschung. Dort fanden sich die Originale zu den auf der Polytex-Werbekarte abgebildeten Stoffen.
Unter Lilly Reich wurde später eine Kollektion ausschließlich mit Vorhangstoffen entwickelt. Hier gibt es in der bisher existierenden Literatur insgesamt Verwirrung, welche Stoffe genau hier zuzuordnen sind und in Zusammenarbeit mit welcher Firma sie eigentlich produziert wurden. Durch einige Funde konnte ich nachweisen, dass diese gewebten Bauhaus-Vorhangstoffe und sogenannte Gittertülle tatsächlich produziert wurden, nämlich von einer Firma namens Baumgärtel & Sohn, die in Lengenfeld im Vogtland, also Sachsen, ansässig war 8.
Also haben wir es mit zwei sächsischen Firmen zu tun.
Das Bauhaus ist mit diesen Stoffen 1933 noch auf die Messe gegangen – auf die Frühjahrsmesse im Grassimuseum, die sogenannte Grassimesse 9. Das war im März 1933. Im April hat das Bauhaus geschlossen. Man kann also sagen, dass dies die letzte Ausstellung des Bauhauses überhaupt war. Auf ihr wurden Stoffe gezeigt.
Ines: Man könnte also sagen, dass Du so etwas wie eine Produktionsgeschichte verfolgt hast? Das ist ein Unterschied zu anderen Elementen Deiner Arbeit. Bei diesem Teil der Arbeit geht es, wenn ich das richtig verstehe, eher darum herauszufinden, wer wann wie produziert hat. Die einzelnen Personen—also Gunta Stölzl, Lilly Reich und Otti Berger—hatten verschiedene Auffassungen darüber, für wen und mit welchen Firmen sie produzieren wollten, und wie teuer die Produktion sein sollte oder konnte. Du hast sehr viel Zeit in diese Fragen und die Recherche dazu investiert. Du bist in die Archive gegangen, und hast die Informationen zusammengeführt; und Du hast Deine Produktion dann auf diese Fragen hin ausgerichtet. Das Faltblatt (Abb. 2+3) zeigt so etwas wie die Geschichte der Produktion der Originalstoffe...
Judith: Genau. Wahrscheinlich ist es zunächst wichtig, eine Entscheidung zu verstehen, die ich anfangs, 2016, getroffen habe: Aus der Bauhaus-Textilwerkstatt sind ja vor allem die Teppiche und Wandbehänge bekannt. Sie waren als Unikate konzipiert. Entsprechend wertete sie die Kunst- und Designgeschichtsschreibung bisher auf, sie finden sich groß abgebildet in Publikationen. Anni Albers kennt heute wahrscheinlich jede, Gunta Stölzl kennen manche – beider Bekanntheit wird über das Formenvokabular ihrer Wandbehängen verbreitet. Aber Gebrauchsstoffe wurden damals in der Textilwerkstatt eben auch gemacht—Gebrauchsstoffe mit bestimmten Funktionen: Polsterstoffe, um Möbel zu beziehen, Vorhangstoffe, Bodenbeläge. Ein weiterer großer Bereich waren Wandspannstoffe.
Die Gebrauchsstoffe wurden von der Forschung bisher nicht eingehend betrachtet. Ich fand sie aber viel aufschlussreicher als die Unikate. Bei den Wandbehängen geht die Weberei eine Verbindung mit gestalterischen Vorstellungen aus der Malerei ein – wie ein Bild an der Wand, entsprechend werden sie in der kunsthistorischen Rezeption auch immer besprochen. Bei den Gebrauchsstoffen spielen ganz andere Themen eine Rolle. Es geht um Fragen nach der Auffassung von Architektur, von modernem Leben. Sie betreffen auch politische und ökonomische Zusammenhänge, Produktionsbedingungen, Bezahlung, und Technologien der Zeit. Auch die verwendeten Materialien sind bedeutungsvoll, sie waren politisch aufgeladen. Die Nationalstaaten der 1920er und 1930er Jahre konkurrierten um Rohstoffe und um technische Innovationen. Diese ganzen Aspekte sind in den Stoffen kondensiert und Du kannst über sie sprechen, wenn Du über die Stoffe sprichst.
Ines: Hast Du eine Kritik an der Rezeptionsgeschichte, wie wir sie heute kennen?
Judith: Ja. Mich hat es gestört, dass es mit Blick auf diese Gattung Stoffe solche Lücken gab.
Eine Art zu forschen
Ines: Ich finde Deine Art hier zu arbeiten, sehr besonders. Ich kann mich nicht an eine andere künstlerische Arbeit erinnern, die auf diese Art und Weise in Archiven forscht und Dinge findet, die auch den Historiker*innen noch nie aufgefallen sind, oder die sich noch nie jemand angeschaut hat. Dabei scheinst Du eine Ahnung zu haben, welche Prozesse oder Produktionen in der Betrachtung fehlen. Diese verfolgst Du, und trittst dann eine Art Beweisführung an. Das ist für eine künstlerische Arbeit recht ungewöhnlich. Und nun tauchst Du mit der Recherche und der Arbeit in ganz verschiedenen Kontexten auf, weil Du Dinge gefunden hast, die auch in der Bauhausforschung bis jetzt nicht bekannt waren. Ich vermute, es ist eine ganz bestimmte Entscheidung so zu arbeiten. Könntest Du beschrieben, wie Du dazu gekommen bist?
Judith: Wenn ich etwas anschaue, frage ich immer zuerst: Wie sieht es genau aus? Mir geht es darum, das Material wirklich zu verstehen, auf Materialbeschaffenheiten zu reagieren und sie in der Arbeit in den Vordergrund zu rücken. Dazu muss ich in die Archive, an die Originale, die Stoffe auch in die Hand nehmen, sie spüren und gegen das Licht halten. Um noch tiefer in diese Materialebene einsteigen zu können, ist ein fortlaufender Dialogprozess mit einer Textildesignerin wichtig. Gemeinsam mit einer Weberin, die langjährige Werkstatterfahrung hat, die technischen und funktionalen Absichten in einem Stoff zu entschlüsseln und über die gestalterische Haltung nachzudenken, die man darin kondensiert sieht, erweitert das Verständnis der Stoffe sehr.
Dann stellt sich die Frage: Warum sieht das Material so aus? Und das macht weiteres auf, persönliche Aspekte aus dem Leben und Umfeld der Beteiligten, politische, ökonomische, kulturelle Zusammenhänge, Funktionsweisen der Archivierung und Vermittlung von Wissen...
Die Bauhaus-Gittertülle hier im Raum zum Beispiel (Abb. 4) galten für die deutsche Forschung ja als verschollen. Meine Intuition war, dass man dieses Material wieder finden muss. Zu Recht, wie sich im Nachhinein zeigte, weil sich mit ihnen so breit weiterdenken lässt, in das Raumprogramm der späten Moderne, in vergessene Industriegeschichte, in unterschiedliche Designstandards in DDR und BRD.
Es war ein Moment, den ich nie vergessen werden, als diese Gittertülle unerwartet auftauchten. Die einzigen verbleibenden Muster davon lagen in der Sammlung des MoMA, sie waren nicht digitalisiert und deshalb hier nicht bekannt. Das ist schwer vorstellbar in unseren vernetzten Zeiten, aber wenn nicht jemand schon dezidiert zu einer Sache geforscht hat, etwas publiziert wurde oder die Sachen digitalisiert sind, sind sie einfach unsichtbar. Als ich nach langer Suche zufällig eine email an das MoMA schrieb und eigentlich nach etwas anderem fragte, kam die Antwort, sie hätten auch ein Musterbuch gewebter Vorhangstoffe und Gittertülle. Das war das Musterbuch, das der Forschung hier die ganze Zeit gefehlt hatte. In New York waren sie sich nicht im Klaren darüber, welche Relevanz dieses Musterbuch hatte, weil die Sammlungen mit Blick auf die Gebrauchsstoffe international nie verglichen und verknüpft worden waren.
Ines: Für das MoMA hat es also keine Rolle gespielt?
Judith: Für die Kunstgeschichtsschreibung und auf dem Kunstmarkt haben die Gebrauchsstoffe bis vor kurzem keine große Rolle gespielt 10. Ich habe den Eindruck, dass man auch für Ausstellungen nicht so recht wusste, was man damit anfangen sollte. Flach in eine Vitrine gelegt, ohne die Rückseite zu zeigen, Materialaspekte auszuleuchten oder die Raumwirkung und den Fall der Stoffe zu suggerieren bleiben kleine Stoffrechtecke von 10 x 15 cm Größe ja auch ziemlich unaufregend. Im MoMA waren einige Stoffe aus der Kollektion von 1932/33 einmal gezeigt worden. Und gerade hat Juliet Kinchin zu ihrem Abschied vom MoMA eine sehr schöne Ausstellung zum Textilen gemacht 11. Das MoMA hat die Stoffmuster allerdings immer aus dem Musterbuch herausgenommen und den kartonierten und bedruckten Umschlag nicht gezeigt oder abgebildet. Ohne das Titelcover und die erste Seite aus Papier, die Auskunft über die Firmenzusammenarbeit gibt, fehlte den Stoffe aber die Kontextualisierung. Vergleichbare Stoffmuster gibt es auch in deutschen Archiven, aber dort sind sie nur lose vorhanden. Eine sichere Zuordnung war also nicht möglich.
Ich fand interessant, dass es 1932 um diese Entwürfe ziemliche Auseinandersetzungen gegeben hat. Die Stoffkollektion entstand ja in Zusammenarbeit zwischen Otti Berger und Lilly Reich, und das lief nicht besonders gut. Sie verhandelten bei der Entstehung der Kollektion ihr Design- und Politikverständnis mit. Es machte einen Unterschied, ob man im Sinne von exklusiven Produkten dachte oder für kostengünstiges gutes Design war. Diese Positionierung beeinflusste die Wahl der Mittel und Materialien, und darüber gab es Konflikte zwischen beiden 12.
Wir sprechen außerdem über das Jahr 1933, als die Nationalsozialisten die Macht übernahmen. Unter den Protagonisten des Bauhauses gab es nicht unbedingt eine grundsätzliche Ablehnung der nationalsozialistischen Ideologie. Mit Blick auf die Gittertülle fand ich es interessant zu fragen, wie die politischen Haltungen während der letzten Zeit am Bauhaus ausgeprägt waren. Die Gittertülle gestalten ja das Verständnis von Innen- und Außenraum mit, und sie modulieren den Blick vom Privatraum in den öffentlichen Raum und zurück.
Ich fand es auch interessant zu verfolgen, wie es für die EntwerferInnen nach 1933 weiterging, ob sie und wie sie weiter praktizierten und ob einige Entwürfe und Konzepte im neuen System Kontinuität hatten.
Ines: Könnte man sagen, dass Du jetzt Spezialistin auf dem Gebiet geworden bist? Auf der einen Seite wirst Du darin als Künstlerin wahrgenommen, und Du bist diejenige, die bestimmte Dinge und Zusammenhänge gefunden hat und Du arbeitest mit Historiker*innen zusammen. Hat sich Deine Rolle dabei verschoben?
Judith: Tatsächlich habe ich einige Beiträge geschrieben, die wissenschaftlichen Charakter haben 13. Gerade zu den erwähnten Firmenkooperationen in Sachsen war es mir wichtig, detaillierte Texte mit entsprechenden Nachweisen zu publizieren, um in den Nebel, der diese Firmenkooperationen umgeben hatte, so viel Licht wie möglich zu bringen.
Aber grundsätzlich sehe ich mich in dieser Arbeit als Künstlerin, weil das Betrachten und ernst nehmen von Materialbeschaffenheiten den Ausgangspunkt bildet, und weil ich im Recherchieren nach anderen Verknüpfungslogiken vorgehen kann als das eine Kunsthistorikerin womöglich tun würde. Ich versuche ja, alle möglichen Aspekte auf eine Ebene zu holen und als relevant für die Arbeit zu verstehen: Nicht nur die originalen Objekte auf kulturgeschichtliche, politische und ökonomische Fragen zu beziehen, sondern auch zu spiegeln, was mir in den Archiven und Institutionen im Hier und Jetzt begegnet, wie erzählt, verwaltet und bewahrt wird. Und die Dimension des Affektiven mit hineinzunehmen, die sich sowohl im historischen Material findet, als auch etwas ist, das meinen Arbeitsprozess bestimmt.
Ines: Würdest du diese beiden Arbeitsweisen trennen, oder eher als sich bedingend und ergänzend beschreiben? Die Frage scheint vereinfachend und ein bisschen „schade“, weil wir ja auch wissen, wie solche Prozesse zusammenhängen. Trotzdem scheint es mir wichtig festzustellen, dass Du auf verschiedene Tätigkeiten und Prozesse angefragt wirst; auch von sehr verschiedenen Institutionen, die alle andere Begehren an Deine Arbeit haben. Stimmt das?
Judith: Ja, die Erfahrung mit dem Grassimuseum zum Beispiel war eigen. Die Präsentationsform, auf die wir uns nach Gesprächen geeinigt haben, war das maximal Mögliche, aber es zwängte doch die Stoffe und vor allem die Filme ein. Die Filme mussten in einem Medienmöbel laufen, um die Handhabung der Medien innerhalb der Ausstellung insgesamt anzugleichen. Ich denke, für die Institution standen eher die Neuwebungen, die für die Installation entstanden sind, im Vordergrund. Die Installation bestand aus Gittertüllen und Neuwebungen von Bauhaus Vorhangstoffen, es war eine raumgreifende Intervention, vier Meter fünfzig hoch (Abb. 5). Zwischen den Stoffbahnen gab es ein 25-minütiges Video, bestehend aus vier kürzeren Filmen, in denen die Stimmen einzelner Weberinnen im – fiktionalen – Gespräch über ihre Entwürfe zu hören waren. Ich hätte das Video lieber auf eine der Neuwebungen projiziert, so wie in der Installation bei after the butcher, als es in einen Kubus zu zwängen (Abb. 6).
MaterialGeschichte
Ines: Du nennst die Nachbildungen der Originalstoffe Neuwebungen?
Judith: Ja. Es handelt sich um Neuwebungen von Originalstoffen, nicht Rekonstruktionen, denn da ist ein Anteil Übersetzungsleistung und Interpretation von der ausführenden Weberin und mir drin hinsichtlich der Garne und der technischen Ausführung.
Es sind Neuwebungen von Originalen, die nur noch in kleinen Stücken erhalten sind und in Kisten oder Schubladen in Archiven liegen. Sie sind nur sehr wenigen Menschen zugänglich. Als ich diese Fragmente in der Hand hatte, ihren taktilen Charakter spüren und sie gegen das Licht halten konnte, fiel die Entscheidung, sie groß in den Raum zu bringen, als Arbeiten, die man – das ist meine Bedingung an die Institution – anfassen kann. Denn im ursprünglichen Entwerfen der Stoffe ging es ja immer auch um den Tastsinn.
Ich habe exakte Garnanalysen und Stoffanalysen an den Originalen in Auftrag gegeben 14. Die Garne sind teiweise heute nicht mehr erhältlich, einige mussten extra gezwirnt oder gefärbt werden, um die Stoffe annähernd hundertprozentig originalgetreu weben zu können. Wenn das gar nicht ging, haben wir uns gegen eine Neuwebung entschieden.
Ich wollte also nicht so arbeiten, dass ich bestimmte Aspekte mithilfe von Meterware, die man heute bekommt, bearbeite, sondern es ging mir um die spezifische Qualität der Originalstoffe, um von deren Materialbeschaffenheiten ausgehend weitere Fragen zu stellen.
Ines: Kannst Du das beschreiben? Was sind das für zwei Stoffe hier in der Ausstellung bei after the butcher?
Judith: Der eine Vorhang ist ein sogenannter Gittertüll. Gittertüll ist auch der Titel der Installation.
Man meint, die Gittertülle noch aus Wohnungen von älteren Verwandten zu kennen, aber tatsächlich sind sie heute verschwunden – Gittertüll aus Baumwolle gibt es in Deutschland schon seit den 1980er Jahren nicht mehr.
Die Kollektion von Vorhangstoffen, die das Bauhaus damals, 1933, herausbrachte, bestand aus unterschiedlichen Typen Stoffen mit jeweils unterschiedlichen Funktionen. Dazu haben Weber*innen damals erstmals theoretische Texte verfasst, um diese Spezifitäten zu fassen zu kriegen. Die Gittertülle sind die lichtdurchlässigsten in einer Abstufung von lichtdurchlässig bis blickdicht. Gittertülle sind transluzent. Sie waren dazu gedacht, tagsüber am Fenster zugezogen zu sein und das Licht zu zerstreuen. Die Sonne sollte nicht zu grell und blendend in den Raum fallen. Ein Nebeneffekt ist, dass auch die Farben anderer Textilien im Raum nicht so schnell ausbleichen. Fast noch wichtiger war die Funktion, Blicke von außen abzuhalten, während man von innen weiterhin nach außen sehen konnte. Das ist der erstaunliche Effekt dieses Materials (Abb. 7+8). Heute wird es noch im Theater verwendet bei den Szenenvorhängen, die heruntergelassen werden, wenn im hinteren Bereich der Bühne etwas umgebaut werden muss.
Den Aspekt des Transluzenten, und auch die Tatsache, dass der Blick mit diesem Material manipuliert werden kann, fand ich spannend.
Der braune Stoff, der hier in der Installation hängt, ist die nächste Stufe, die sozusagen auf der Transluzenz-Skala nach den Gittertüllen folgt. Wenn man nahe heran tritt und eine Lage Stoff gegen das Licht hält, ist das Material semitransparent. Das waren sogenannte Sonnenvorhänge. Sie sollten in stark besonnten Räumen auch tagsüber durchaus zugezogen sein, wenn man sich z.B. in heißen Sommern vor Sonne schützen wollte. Otti Berger schlägt für diesen Typ Vorhangstoff vor, dass das auch gern farbig passieren kann – was dann farbiges Licht im Raum erzeugt. Im Musterbuch gab es den Stoff neben braun und crèmeweiß auch in grün, in blau und in rostrot.
Die nächste Stufe wären dann dichtere Vorhänge, die waren zur Verdunklung gedacht, schwerer und dicker auftragend, oft in dunklen Farben...
Ines: ...die auf zwei nebeneinander liegenden Schienen hingen...
Judith: Ja, oft liefen diese Vorhangsysteme auf zwei unterschiedlichen Schienen, näher am Fenster die Gardinen, davor das Material zur Verdunklung. Die dichteste Qualität dieses Typs Vorhang war auch zur Temperaturregulierung gedacht und sollte Wärme oder Kälte vom Raum abhalten. Oder man verwendete diese Stoffe als Trennvorhänge zwischen Räumen. Das gab es in den 1930er Jahren oft, man kann das gut in Zeitschriften aus der Zeit sehen. Trennvorhänge in Durchgängen zwischen Räumen, oder als Raumteiler zwischen Schlaf- und Arbeitsbereich.
Das sind die „Vorhang-Gattungen“, wenn man das so nennen will.
Ines: Ist diese Arbeit für Dich historisch—im Sinne, dass Du eine historische Perspektive so wieder erlebbar machen willst, wie sie einmal war—oder verstehst Du sie als interpretierende Arbeit, in der Du das, was Du gefunden hast, von Deinem Standpunkt aus wiedergibst und betrachtest?
Judith: Beides. Es kommt mir darauf an, bestimmte Qualitäten, die vergessen scheinen, zu vermitteln. Durch die Filme und den installativen Umgang mit dem Material kommen kulturkritische und politische Ebenen dazu. In den Lecture Performances ist es mein Sprechen über die Thematik in der Ich- Form und mein Körper als der Körper einer Produzentin, die es erweitern.
Ines: Dabei stellt sich für mich die Frage, wie Du das beschreibst und vermittelst. Die Zeitgeschichte, die Du auf dem Faltblatt (Abb. 2+3), das die Ausstellung im Grassi Museum Leipzig begleitet, produziert hast, ist ja keine Fiktion, sondern du beschreibst darin konkrete Geschichte, es ist eine bestimmte Art, Geschichte zu lesen. Bei dem Faltblatt geht es Dir, wenn ich das richtig verstehe, darum, die Fakten zusammenzuführen, die sich bisher noch nie jemand angeschaut hat.
Judith: Das Faltblatt ist die Rekonstruktion einer Produktions-Timeline. Ich habe es explizit für die Ausstellung in Leipzig entwickelt, um die Verwebung zwischen dem Bauhaus und sächsischen Textilfirmen zu verdeutlichen, auch in ihren problematischen Aspekten. Mir war es wichtig, dass auch Existentielles darin vorkommt, auch wenn das in der Archivarbeit leicht übersehen werden kann, weil es nur in vereinzelten Aktennotizen anklingt. Ich habe zum Beispiel ein Dokument gefunden, das zeigt, dass Otti Berger noch Monate nach Schließung des Bauhauses bei Mies van der Rohe ihr Honorar für die Vorhangstoffkollektion einfordert, oder das die Firma Polytex, kurz vor dem Konkurs stehend, dem Bauhaus von sich aus die weitere Zusammenarbeit anbietet, während dieses schon längst mit einer anderen Firma in Verhandlung stand. Die Bedeutung der einzelnen Schriftstücke lässt sich nur kontextualisiert und in direkter Gegenüberstellung in einer Timeline, chronologisch, mit Datum, verstehen.
Aber in den installativen und filmischen Arbeiten sehe ich die aufgezeigten Zusammenhänge, die Tendenz der Interpretation eher als Vorschlag.
Ines: Es gibt andere Arbeiten von Dir zu diesem Zyklus, in denen Du eine andere Position einnimmst und eine andere Herangehensweise erprobst.
Judith: Ich habe für einzelnen Arbeiten unterschiedliche Ansätze verwendet. Es gibt Videos, in denen meine eigene Stimme zu hören ist, Ich werde als Produzentin fassbar, sage, was ich über das Material denke.
In anderen Filmen habe ich mit Schauspielerinnen gearbeitet und sie gebeten, Texte einzusprechen und mir ihrer Stimme zu interpretieren, die so klingen, als wären es Äußerungen der Weberinnen selbst. Tatsächlich habe ich sie aber verfasst. Das hat unterschiedliche Reaktionen ausgelöst. Einige fanden, das sei einerseits zu mimetisch am Archivmaterial dran und die Fiktionalisierung wirke dann verwirrend. Es gab aber auch offene Begeisterung, weil es einen intensiv reinzieht in den historischen Zusammenhang.
Ich fand es notwendig, die Stimmen der Bauhaus-Gestalterinnen anzueignen oder zu erfinden, weil mir bei der Recherche aufgefallen war, wie unterschiedlich sich die Einzelnen als EntwerferInnen positionierten. Und diese Gegensätze und Spannungen schienen mir am besten herauszukommen, wenn man auch über die Stimme die jeweils unterschiedliche Persönlichkeit herausarbeitete. Da passiert beim Zuhören etwas Emotionales, ein Identifikationsmoment, und die Konflikte werden intensiver erlebt.
Ines: Die Fakten, von denen Du da sprichst, sind jedoch von Dir interpretiert, oder beziehen sie sich tatsächlich auf Dinge, die Du in den Archiven gefunden hast und die Du in einer anderen Art und Weise erzählst? Bestand die Fiktionalisierung darin, die Form der Sprache zu erfinden, oder bezieht sie sich darauf, was die Weberinnen konkret sagen?
Judith: Ich gebe dem Material zum Teil eine Tendenz, die es aus sich heraus nicht unbedingt hat. Womit ich es in historischen Dokumenten und Objekten zu tun habe, sind ja Reste von Handlungen, von Charakteräußerungen, von persönlicher Haltung. Ich versuche immer, die psychologische Ebene mit zu sehen und bestimmte Äußerungen als symptomatisch zu verstehen: Den Tonfall in einem Brief. Die Art der Argumentation. Die Wahl der Materialien für einen Stoff. Ich beobachte das, und versuche, Einzelnes durch Hervorhebung oder Überbetonung deutlicher zu machen.
Otti Berger zum Beispiel hat sich gern verkleidet, das ist auf Fotos dokumentiert. Ich habe Leslie Malton, die ihr ihre Stimme leiht, gebeten, humorvoll und expressiv zu sprechen, sie als einen eher impulsiven Typ zu nehmen. Sie lacht zum Beispiel laut auf und sagt, sie hätte sich immer so gern verkleidet, bevor sie dann im Detail über einen Stoff spricht, der wiederum ein Zwitterwesen ist, eine handwerkliche Gattung, verkleidet als eine andere.
Ines: Bis jetzt haben wir über die Fiktionalisierung als künstlerische Arbeitsform gesprochen. Was Du eben beschrieben hast, würde ich eher als narrative Strategie verstehen denn als Fiktionalisierung. Es gibt noch einen anderen Aspekt, der dabei für mich wichtig ist, ein Aspekt, der eher kulturpolitisch oder gesellschaftskritisch ist. Man könnte sagen, dass Archive immer aus einer bestimmten Perspektive heraus produziert wurden und dass die Dinge, die gesammelt wurden, und die wir heute in ihnen finden, dieser Perspektive entsprechen. Dabei fällt uns dann oft auf, dass andere Fragen, die wir an bestimmte Themen haben, einfach für diese Archive nicht relevant waren und wir deshalb bestimmte Dinge nicht in ihnen finden können. Das würde in deinem Fall heißen, dass es bestimmte Dinge, die du in den Archiven suchst, einfach nicht dort gibt. Das heißt für dich dann, dass du an bestimmten kleinen Dingen und Aussagen, Materialien oder Fußnoten eine andere Geschichte entwickeln musst. So hatte ich Deine Arbeitsweise auch in Deinen Arbeiten davor verstanden. Meine Frage wäre also: Hast Du bestimmte Elemente, Aussagen oder Gespräche fiktionalisiert, weil sie so nicht im Archiv existieren, aber weil sie trotzdem gleichzeitig ein schwarzer Fleck im Archiv sind—einen, den man fiktionalisieren muss, wenn man über ihn sprechen möchte?
Judith: Ja, durchaus, allerdings nicht so oft, wie man es erwarten könnte. Dadurch, dass ich sehr lange gesucht habe, ist einfach viel aussagekräftiges Material aufgetaucht, das sich hervorragend für Kritik und Dekonstruktion eignet. Aber ja – zum Beispiel habe ich für meinen Vortrag in Harvard zum einen für Otti Berger gesprochen, ich habe im Sprechakt von einem Ich, das mich bezeichnet, zu einem Ich, das sie bezeichnet, gewechselt. Und ich habe sie erfundene Dinge sagen lassen. Etwa, dass ihre Arbeit jetzt endlich eine Retrospektive im MoMA erhält (wovon wir weit entfernt sind). Auch ihr Verhältnis zu Anni Albers habe ich sie problematisieren lassen (obwohl es dazu keine eindeutigen Quellen gibt), um auf die ausbleibende Anerkennung ihrer Arbeit und Ausgrenzungsmechanismen in der Kunstgeschichtsschreibung hinzuweisen.
Aber was meine Arbeit zur Textilwerkstatt am Bauhaus bisher eben auch gezeigt hat, ist eine strukturelle Schwierigkeit. Einige Geschichten und Biographien sind unter anderem deshalb bisher nicht rekonstruiert oder beforscht, weil die Nachlässe wegen des Schicksals, das die jeweiligen Personen ereilt hat, völlig auseinandergerissen und über die Welt verstreut liegen. Wenn ich zu Otti Berger nur die Quellen gehabt hätte, die im Bauhaus Archiv Berlin und in der Stiftung Bauhaus Dessau aufbewahrt werden, wäre Fiktionalisierung eine Option gewesen. Aber dadurch, dass ich mich zwischen Archiven in Holland, der Schweiz und den USA bewegt habe (Berlin und Dessau waren im Jahr 2017 geschlossen), habe ich viel Material gefunden. Es ging mir dabei auch um diese Bewegung und die Akte der Verknüpfung weit verstreuter Einzelteile. Eine mühsame Puzzlearbeit, ein fast unverhältnismäßiger Ressourcenaufwand. Diese Verknüpfungsarbeit hat wunderbare, auch lange Erzählstränge ergeben.
Es war für mich auch deshalb wichtig, unbekannte Details zu Otti Berger zu finden, weil Anni Albers in den letzten Jahren in aller Munde war. Als ich mehr und mehr Einblick in die Bauhaus-Textilwerkstatt hatte, hat mich diese einseitige Aufmerksamkeit verwundert und geärgert 15.
Für andere ehemalige Produzentinnen fehlt diese Aufmerksamkeit. Sie verschwinden aus der Geschichtsschreibung, wenn sich niemand um ihr Werk kümmert 16.
Soviel zu diesem Aspekt. Fiktionalisieren schien mir nur bedingt nötig. Interessanter war es für mich, die Dinge, die es zu finden und zu sehen gibt in den Archiven, sichtbar zu machen. Das war der Impuls hinter den letzten Arbeiten.
Autorenschaften
Ines: Noch eine andere Frage: Wie machst Du mit dieser Arbeit weiter? Du hast viel Information und Material angesammelt und viele Dinge entdeckt. Ist die Arbeit für Dich schon erschöpft oder gibt es noch was zu sagen?
Judith: Wenn ich zurückschaue, finde ich die Lecture-Performances zu den Bauhaus-Stoffen am gelungensten. Wenn ich selbst im Raum bin und anfange, Material zu bearbeiten, während gleichzeitig Projektionen von Fotos der Stoffe und Text dazu kommen, vermittelt sich ziemlich viel. Das Ganze hat den Charakter eines ausführlichen und intensiven Geschichtenerzählens, wobei diese Erzählung einen Stoff, also etwas Textiles, als Anlass nimmt, um sich immer weiter zu verzweigen und zu verkomplizieren. Ich bin sowohl Sprecherin als auch Performerin. Die skulpturalen Handlungen – Seile verweben, Fadenverbindungen im Raum schaffen, Stoffe auf unterschiedliche Arten berühren und bewegen – wirken wie Manöver der Vergrößerung, um die Konstruktion der Stoffe sichtbar zu machen. Ihre innere Logik wird nachvollziehbar. Zwischen der Nahsicht auf die materialhafte Eigenart der Stoffe, den in den Raum gebrachten Gesten, und dem, wovon der Text handelt – Produktionsbedingungen, Machtverhältnisse, Verbindungen von Politischem und Privatem – ergeben sich wechselnde formal-strukturelle Zusammenhänge.
Das Feedback aus dem Publikum war eigentlich durchweg ein großes Erstaunen darüber, wie aufgeladen die gerade im Architekturdiskurs als raumgestaltendes Element oft übersehenen Stoffe sind.
Zu Otti Berger plane ich eine größere Folgearbeit und eine Publikation. Daher auch mein Wunsch, das Gespräch mit dir zu führen. Es beschäftigt mich, dass meine Praxis irgendwann nicht mehr als künstlerische Praxis lesbar sein könnte, sondern zu stark in etwas Wissenschaftliches mutiert. Damit wäre ich nicht glücklich.
Ines: Warum, was fehlt dir da?
Judith: Im Zentrum meines Interesses steht es ja, Räume aufzumachen, in denen die Erzählung aus der Stofflichkeit des Materials heraus beginnt. Die umfangreichen historischen Recherchen sind notwendig, um einzelne bemerkenswerte Stücke überhaupt erst zu finden und um die Erzählung mit einer kritischen Perspektive anzureichern, die nach kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Zusammenhängen fragt. Aber was die spezifischen Qualitäten von Material selbst tun und leisten können, steht im Vordergrund. Sowohl auf der Ebene der Exponate, als auch was die Form und Ästhetik der Präsentation betrifft.
Wenn man die Materialebene ernst nimmt, geht es aus meiner Erfahrung fortwährend darum, offen zu sein und zu reagieren, sich neu auf das einzustellen, was bei diesem Kontakt passiert. Das ist aus meiner Sicht eine grundsätzlich andere Praxis, auch des Ausstellens, als sie in historischen oder angewandten Museen vielfach gängig ist, wo Wissensinhalte und Exponate in eine eindeutigere Narration eingebettet werden.
Ich war für das Projekt bisher öfters mit Institutionen in Kontakt, die nicht hauptsächlich zeitgenössische Kunst zeigen. Dieser Austausch macht aus meiner Erfahrung für beide Seiten viel Neues auf. Aber es entsteht auch erhöhter Klärungsbedarf, was die eigenen Methoden und die Qualitäten, um die man ringt, betrifft. Es gibt da ein gewisses Risiko, dass eine Zusammenarbeit, in der man das Verständnis der eigenen Autorenschaft und Produktion wiederholt grundsätzlich erklären muss, unfrei macht.
Ines: Kannst Du das genauer beschreiben? Für mich stellt sich da auch die Frage, auf was dich Räume überhaupt anfragen... laden sie Dich als die Herstellerin der Neuwebungen ein, um die Stoffe anders erfahrbar zu machen? Oder interessieren sie sich auch für deine „Lesart“ der Geschichte als Künstlerin?
Judith: Es gibt beides. Für Juliet Kinchin, die Kuratorin der Ausstellung Taking a Thread for a Walk im MoMA stand meine Lesart der Geschichte im Vordergrund. Sie hängte mein Video zum Problem anonymer Autorenschaft in Bauhaus-Stoffen und Wandbehängen direkt neben einen Wandbehang von Gunta Stölzl.
Für das Grassimuseum standen dagegen eher die Neuwebungen im Vordergrund, denke ich. Die Stoffe wurden ja anschließend Teil der Sammlung. Ich konnte es nicht durchsetzen, meine Videos, die Teil der Installation waren, adäquat zu projizieren, nämlich auf die Stoffe. Dabei ist die Präsentationsebene essentiell, um die Entscheidungen und Gesten innerhalb der Arbeit weiter zu verstärken. Stattdessen wurden die Videos in einem kleinen Monitorkubus gezeigt, weil das in der Ausstellung insgesamt so gehandelt wurde. Ich hätte zu einem frühen Zeitpunkt im Gespräch klarer sagen müssen, was meine Grundvoraussetzungen sind.
Diese Erfahrung berührt denke ich ein generelles Problem. Sobald eine Arbeitsweise forscherische und kuratorische Elemente beinhaltet, gibt es Überschneidungen mit den Erfahrungen und Kompetenzen des ständigen Personals im Haus. Dass es die Erwartungshaltung oder den Wunsch gibt, auf der Präsentationsebene den gewohnten Umgang mit Vitrinen, Medienmöbeln oder Beschriftungen durchsetzen, der für die künstlerische Arbeit gar nicht unbedingt Sinn macht, ist ja nur ein Aspekt.
Ines:
Ich fand diesen Aspekt in Deinem Arbeitsprozess immer spannend: Jede neue Anfrage und Einladung an Dich von einer „kunstfremden Institution“ trug immer auch eine Interpretation oder eine bestimmte Lesart von außen an die Arbeit heran. Ich denke, daß die Anfragen von Institutionen, die Interesse an einem ganz bestimmten Element oder Fragestellung an einer Arbeit haben, oft eine andere ist, als die, die Du Dir selbst stellst. Oft scheinen die Institutionen dann zu definieren „was geht“ und „was nicht geht“. In diesem Zusammenhang ist für die gerade so oft benannte „künstlerische Forschung“ wohl entscheidend, für welchen Kontext man die Arbeit produziert und wo man sie zeigt. Das kann man als Künstlerin, die in einem Kunstkontext ausstellt, völlig offenlassen, da im Kontext zeitgenössischer Kunst niemand einer Künstlerin Regeln bezüglich ihrer Arbeit aufstellen würde. In den angewandten und wissenschaftlichen Kontexten sieht das anders aus. Auch dort gibt es ja bestimmte, anerkannte Regeln und Methoden. Diese sind nicht unbedingt mit künstlerischen Prozessen, Geschichte zu lesen und zu interpretieren, kompatibel, und manchmal stellt sich dabei dann auch die Frage nach der Deutungshoheit über Geschichte. Wer darf Geschichte erzählen, interpretieren, beforschen und erklären? Von welchen Positionen aus kann man das tun? Und wie verändert die Erzählperspektive unsere Wahrnehmung von Geschichte? Ich denke, daß es dabei natürlich zum einen darum geht, dass nicht jeder irgend etwas erzählen kann und dies als „Wahrheit“ definieren kann, sondern dass wir uns dabei auf bestimmte Regeln von Nachweisen etc. verpflichten; aber es geht auch um die Frage, wie man spricht, welche Sprache anerkannt ist, und welche Perspektive akzeptiert wird. Ich könnte mir vorstellen, dass Deine Art zu arbeiten, eine Herausforderung für manche Institutionen ist, weil sich durch sie Fragen an die Erzählperspektive stellen; aber natürlich auch ganz offensichtlich Fragen der Erkennbarmachung, in dem Sinne, dass sie in einer Ausstellung anzeigen müßten, dass dies nun eine „andere“ Perspektive ist. Ich frage mich, ob das für die Institutionen interessant sein könnte oder ist. Sie müssten dabei evtl. ihre Arbeitsweise verändern, um Deine Perspektive als gleichwertig zu nehmen; Frageinstrumente und -methoden müssten sich mitverändern, oder im Dialog stehen, ebenso wie Vermittlungsansätze, die Auseinandersetzung mit Formen der Darstellung und der Ausstellungsgestaltung usw.
Judith: Für das Publikationsprojekt, das ich mit dem Bauhaus-Archiv Berlin zu Otti Berger plane 17, spielen solche Fragen eine Rolle. Das fortgesetzte Gespräch mit den Kuratorinnen ist für alle fruchtbar, weil wir uns Zeit nehmen, unsere Arbeitsprozesse vor einander offen zu legen und gegenseitig zu verstehen. Für die Institution ist es interessant, aus der Zusammenarbeit an den Stoffen Bergers heraus, oder besser aus verschiedenen Problemlagen, auf die wir in Zusammenhang mit den Stoffen stoßen, eigene Verfahrensweisen der Archivierung, Digitalisierung, Verknüpfung und Vermittlung reflektieren und neu entwerfen.
Was hinsichtlich des Erbes an Gebrauchsstoffen der Bauhaus Textilwerkstatt für die Archive weltweit ansteht, ist aus meiner Sicht, sich besser zu vernetzen und digitale Tools der Verknüpfung zwischen einzelnen Stoffen zu entwickeln, um Zusammenhänge zwischen den Entwürfen einzelner und Entwicklungsprozesse innerhalb eines Werks (etwa von Otti Berger oder Gunta Stölzl) sichtbar zu machen. Zusätzlich wäre wichtig, die Provenienzen und bisherigen Zuschreibungen sichtbar zu machen, um zu zeigen, wer mit den Stoffen Umgang hatte und wer an der Konstruktion von Bedeutung beteiligt war.
Diesen Aspekt neuer Lösungen für transparente Datenverarbeitung kann nicht ich übernehmen, auch wenn ich ein umfangreiches digitales Bildarchiv angelegt habe. Ich möchte primär Zeit haben für die Nah-Betrachtung der Stoffe, für einen intensiven Dialog mit einer Textildesignerin und für die Entwicklung eigener Arbeiten auf der Basis des Gesehenen.
Aber ich bin sehr optimistisch, dass man diese unterschiedlichen Perspektiven auf und Interessen an den Stoffen ja gerade in einer Publikation gut darstellen und auch trennen kann.
Ines: Gab es andere Konflikte, die aus der Zusammenarbeit mit wissenschaftlichen oder angewandten Künsten bestanden?
Judith: Eine Problematik, die sich immer wieder in die Projekte einschleicht, ist eine direkte Folge der alten Hierarchisierung zwischen freier und angewandter Kunst. Ich arbeite mit Textildesigner*Innen zusammen, zum Teil sehr eng. Teilweise gab es von Seiten der Institution Verwirrung, wer „Künstlerin der Installation“ sei. Die Neuwebungen und auch die vorbereitenden Garn- und Bindungsrecherchen dazu vergebe ich ja als Auftrag. Aber ich wäre nicht auf die Idee gekommen, dass man diese in der Tat ganz wunderbare Leistung mit einer Autorenschaft an der Installation als Ganzes gleichsetzen könnte, für die es ja zusätzlich zu den Neuwebungen erst einmal eine grundsätzliche Idee braucht, und in die dann Recherchen zu wirtschaftlichen und politischen Aspekten, Fotografieren in Archiven, Erarbeitung eines Skripts, Arbeit mit Sprecherinnen, Schnitt von Video-Essays, räumliche Umsetzung, Hängung und Inszenierung der Stoffe einfließen.
Dass es hier einen Konflikt um Autorenschaft gab, war vor dem Hintergrund der erwähnten traditionellen Hierarchisierung zwischen freier und angewandter Kunst heikel, weil meine Position darin – in Bezug auf die Installation auf mein Urheberrecht zu bestehen – scheinbar die alte Hierarchisierung stützte, während es aus meiner Sicht um ein anderes Problem ging. Nämlich dass Autorenschaft nach wie vor selbstverständlicher gehandelt wird, wenn es um etwas Handgemachtes geht. Formen immaterieller, konzeptioneller künstlerischer Arbeit, die schwerer greifbar sind, zumal, wenn sie forscherische, kuratorische und poetische Strategien in sich aufnehmen und damit die Grenzen zu anderen (wissenschaftlichen) Disziplinen verschwimmen, haben es mit der Anerkennung schwerer.
1 Herzlichen Dank an Ina Wudtke für die Initiative, dieses Gespräch in Textform zu bringen und zu veröffentlichen. Ab November 2020 wird das Gespräch in editierter Form auf der Homepage des documenta Instituts zu lesen sein.
2 Das Ereignis eines Fadens / The Event of a Thread ist eine Tourneeausstellung des Stuttgarter ifa Institut für Auslandsbeziehungen, die 2017 im Kunsthaus Dresden eröffnete. Seit 2018 reist die Ausstellung international. Sie zeigt zeitgenössische künstlerische Positionen zum Medium des Textilen.
3 Die räumliche Umsetzung erfolgte in Zusammenarbeit mit S.T.I.F.F. Berlin, die grafische Gestaltung in Zusammenarbeit mit Jakob Kirch und Pascal Storz. Neben mehreren Neuwebungen, für die die Textildesignerin Katharina Jebsen die vorbereitenden Stoffanalysen erarbeitete, waren zwei Video-Essays Teil der Installation, die seitdem auch als eigenständige Arbeiten gezeigt werden. Begleitend zur Installation erschien die Publikation Bauhausraum / Bauhaus Space.
4 Gunta Stölzl war die erste und einzige weibliche Formmeisterin am Bauhaus und musste 1931 aus politischen Gründen gehen. Sie wurde aus den Reihen der Studierenden und Lehrenden angefeindet, weil sie politisch links eingestellt war und weil sie mit einem aus Palästina stammenden Mann, also einem Juden, verheiratet war. Aufgrund der andauernden Anfeindungen sah sie sich gezwungen, zu kündigen. Lilly Reich, Innenarchitektin, war danach von Mies van der Rohe an die Schule geholt worden, die beiden arbeiteten bereits länger zusammen und waren teilweise ein Paar. Reich leitete am Bauhaus neben der sogenannten Ausbauabteilung auch die Textilwerkstatt.
5 Das liegt meines Erachtens daran, dass die Puzzlestücke, die ein vollständigeres Bild ergeben, auf internationale Sammlungen verstreut liegen, für die bisherigen Überblicksarbeiten zur Bauhaus-Textilwerkstatt hatte man sich aber primär auf deutsche Sammlungen konzentriert. Für die bis heute vielleicht grundlegendste Publikation zur Textilwerkstatt Das Bauhaus webt. Die Textilwerkstatt am Bauhaus (Wittenberg: 1999) erarbeiteten die Herausgeber*innen Magdalena Droste und Manfred Ludewig schwerpunktmäßig von der Sammlung des Bauhaus-Archivs Berlin ausgehend einen Überblick über die Werkstatt. Unter den für die Publikation verwendeten Materialien befanden sich zu den erwähnten Firmenkooperationen jedoch nur bruchstückhafte Informationen. Wie auch der ein oder andere Aspekt der Textilwerkstatt, so konnte dieses (späte) Kapitel der Textilwerkstatt in einem Überblickswerk nicht umfassend bearbeitet werden.
6 In den wenigen existierenden Akten wird die Firma unter dem Namen „Polytex“ gehandelt. Auf einer Bauhaus-Polytex-Werbekarte findet sich neben „Polytex“ die Ortsangabe „Berlin“. Die Firma hatte aber nur ihren Verkaufssitz in Berlin. Die eigentliche Produktion war in Sachsen, in Seifhennersdorf, im Haus einer Firma mit anderem Namen: „Buntweberei Peter Rentsch“.
7 Lisbeth Oestreicher (1902-1989) machte 1930 ihr Diplom bei Gunta Stölzl und ging anschließend in die Niederlande, wo sie in unterschiedlichen Textilfirmen arbeitete und ein eigenes Atelier eröffnete. Nach einer dreijährigen Internierung in einem Konzentrationslager produzierte sie bis zu ihrem Tod nur noch für Familie und Freunde. Ihr Nachlass im TextielMuseum Tilburg ist einer der zahlreichen noch nicht erforschten Nachlässe von AbsolventInnen der Textilwerkstatt am Bauhaus.
8 Die Kooperation kam wahrscheinlich über Otti Berger zustande. Otti Berger hatte selbst in der Textilwerkstatt studiert und 1931 zwischenzeitlich in der Firma Baumgärtel & Sohn gearbeitet, ehe sie unter Lilly Reich interne Leiterin der Textilwerkstatt wurde. Lilly Reich konnte selbst nicht weben und ihre ästhetischen Konzepte in handwerkliche Prozesse übersetzen. Sie brauchte eine Person, die an den Maschinen und im Entwurfsprozess die Verantwortung übernahm.
9 Bisher war nicht bekannt, dass damals sowohl gewebte Stoffe als auch Druckstoffe gezeigt wurden, auf zwei verschiedenen Messeständen Die Druckstoffe sind relativ bekannt, einige Museen besitzen die originalen Musterbücher. Zu den gewebten Stoffen gab es jedoch keine eindeutigen Erkenntnisse. Einziger mir bekannter Hinweis auf eine Produktion war ein Zeitschriftenartikel, in dem berichtet wird, dass das Bauhaus vorhabe, gewebte Stoffe und Gittertülle zu produzieren.
10 Eine frühe Ausnahme bildet die Ausstellung zum textilen Werk von Gunta Stölzl am Bauhaus Archiv Berlin, in der zahlreiche ihrer Gebrauchsstoffe gezeigt und im begleitenden Katalog publiziert wurden (Gunta Stölzl: Weberei am Bauhaus und aus eigener Werkstatt, Bauhaus-Archiv Berlin, 1987). Kürzlich widmete auch die Ausstellung Handwerk wird modern der Stiftung Bauhaus Dessau mehrere Vitrinen einigen Gebrauchsstoffe und ihrem Entstehungskontext. Die Muster von Gebrauchsstoffen wurden allerdings nicht inszeniert, um ihre Materialbeschaffenheiten auszuleuchten, sondern flach in Vitrinen gezeigt, und die Rückseiten waren nicht sichtbar.
11 Taking a thread for a walk, Museum of Modern Art New York, bis Januar 2021. Judith Raums Videoarbeit Taking turns on the same loop. Anonymous authorship at the Bauhaus sowie durch das MoMA angekaufte Gittertülle sind Teil der Ausstellung.
12 Lilly Reich etwa bestand in der Entwicklung der Kollektion gewebter Vorhangstoffe darauf, dass Garne von einem Großhändler verwendet wurden, mit dem sie in langjährigen Geschäftsbeziehungen stand, obwohl diese um ein Vielfaches teurerer waren als Garne anderer Anbieter. Otti Berger beschwerte sich schriftlich darüber.
13 J. Raum: Die Kooperation mit der Polytex Textilgesellschaft und Vorhangstoffe gewebt, Gittertülle, in: O. Thormann (Hrsg.): Bauhaus Sachsen, Leipzig: 2019; J. Raum: Diagonal, Pointé, Carré. Adé Bauhaus? Otti Bergers Entwürfe für die Wohnbedarf AG Zürich, in: Bauhaus Imaginista Online Journal, 2019; J. Raum: Irritierende Stoffe, in: Schule Fundamental, Dessau: 2018.
14 Die Stoffanalysen und Neuwebungen für die Installation Stoffbesprechung im Grassimuseum Leipzig führte die Textildesignerin Katharina Jebsen, Leipzig, aus.
15 Retrospektiven fanden 2018/19 in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen und in der Tate Modern in London statt. Hinter den Ausstellungen und begleitenden Publikationen steht die Josef und Anni Albers Foundation, die auf dem Kapital aufbaut, das Anni und Josef Albers hinterlassen haben. Beide waren in der Lage, im Exil zu arbeiten. Die Stiftung kann heute mit diesem Geld operieren, nach wie vor werden Werke etwa bei Zwirner verkauft. Die Position des Werks der beiden im Kunstmarkt wird aktiv ausgebaut.
16 Anni Albers und Otti Berger standen während ihrer Zeit am Bauhaus zeitweilig in intensivem Austausch und waren befreundet. Beide hatten jüdische Wurzeln. Albers gelang die Flucht bzw. das Exil, Otti Berger wurde in Ausschwitz ermordet. Ein Vergleich zwischen den Arbeiten von Anni Albers und Otti Berger während der 1930er Jahre zeigt, dass Otti Berger anders als Albers zahlreiche wichtige und florierende Firmenkooperationen unterhielt. Die hohe Qualität ihrer Stoffe sowie die große Zahl an zwischen 1932 und 1937 entwickelten Entwürfen für Gebrauchsstoffe ist beeindruckend. Nach wie vor existiert jedoch zu ihrem Werk nur hier und da ein Essay in einem Sammelband.
17 Als die wohl begabteste Schülerin der Weberei, so Formmeisterin Gunta Stölzl, erhielt Otti Berger 1930 ihr Diplom der Bauhaus-Textilwerkstatt am Bauhaus Dessau. Nach vorübergehender Leitung der Werkstatt machte sie sich mit einem Laboratorium für Stoffe in Berlin selbständig und entwarf mehrere Jahre lang erfolgreich für internationale Firmen, bis ihre Karriere 1944 in Auschwitz endete.
Otti Bergers Stoffentwürfe sind bemerkenswert hinsichtlich ihrer optischen und haptischen Qualitäten, die durch raffiniert gewähltes Material und Bindung entstehen. Da die Muster aber in Archiven über die Welt verstreut liegen und Verknüpfungsarbeit bisher quasi nicht geleistet wurde, harrt ihr Werk nach wie vor einer breiten öffentlichen Wahrnehmung. Die besondere Qualität des textilen Werks von Otti Berger herauszuarbeiten und zu vermitteln ist Teil des Projekts mit dem Bauhaus-Archiv Berlin.